Unser Vorhaben „Lernen auf Reisen“ hat uns in den letzten Monaten oft unsere Grenzen vor Augen geführt. Wir lavieren zwischen „Lernen müssen“ und „Freilassen“. Und wir korrigieren unseren Kurs permanent. Denn auch wir Erwachsenen lernen Tag für Tag dazu. Ein Erfahrungsbericht aus drei Monaten Lernen auf Reisen.

Für die, die uns nicht kennen: Unsere Kinder besuchen derzeit keine Schule. Stattdessen reisen sie mit uns, ihren Eltern, und Charlie unserem Hund, dem sechsten Familienmitglied, durch Europa. Warum? Das könnt Ihr hier lesen.

Paul (12) und Fannie (10) kommen seit drei Monaten ohne Fachlehrer aus, ohne Pausenklingeln, Hausaufgaben oder Nachmittagsbetreuung. Und auch Liv (5), unsere Jüngste, lernt nicht wie die meisten Kinder ihres Alters in der Vorschulgruppe ihres Kindergartens. Unser einziger pädagogischer Ansatz vor der Reise war: Die Kids werden auf der Reise anders lernen – durch Erfahrungen und Begegnungen.

Seither ist viel passiert. Und unser pädagogischer Ansatz hat sich im Laufe der Zeit gleich mehrfach um sich selbst gedreht.
Warum?

Andi und ich sind Kinder unserer Zeit, unserer Erziehung. Wie die meisten sind wir zur Schule gegangen, haben unser Abitur gemacht; und später unsere Universitätsabschlüsse angeschlossen. Wir haben Abschlüsse und Zertifikate angesammelt. Bis vor ein paar Monaten waren wir Teil des gut geölten Getriebes aus ehrgeizigen Elternansprüchen, Bestnoten und Abi als ultimativer Mindestmarke. Was haben wir schon für Kämpfe auf der Grundschule mitgemacht, erlebt und beobachtet, um Kinder aufs Gymnasium zu hieven. Wir waren ein ganz natürlicher Teil des „Systems Schule“. Wie so viele wollten und wollen wir das „Beste“ für unsere Kinder, haben nach der „besten“ Schule gesucht, die sie fördert, aber nicht überfordert, die sie auf eine gute, eine erfolgreiche, eine sichere Zukunft vorbereitet.
Wir haben Verantwortung übernommen

Interessanterweise haben wir nun, da wir eine Pause einlegen und auf Reisen sind, das erste Mal das Gefühl, wirklich Verantwortung für die Bildung unserer Kinder zu tragen (zuvor hatten wir sie nämlich dankbar an die Schulen abgegeben). Wir sind mit den Erfahrungen von Andre Stern in Berührung gekommen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Neurobiologen Gerald Hüther. Beide propagieren eine These, der wir zwar gerne intensiv lauschen, deren Umsetzung uns aber nun, da wir wirklich die Gelegenheit haben, sie zu leben, immer noch an unsere Grenzen bringt.

Die These lautet verkürzt: „Wir lernen nur im Spiel und behalten so nur das, was wir erfahren und „erspielt“ haben und für uns wirklich wichtig ist. Genau dieses Wissen wird uns dann auch im Erwachsenenleben erfolgreich und glücklich machen!“

So einfach, so gut. Alles in mir sagt, die beiden haben recht. Ich habe beispielsweise Geographie studiert, aber wenn es daran geht, den Weg zu finden, ist Andi immer besser und schneller als ich. Nach dem Studium habe ich mich dem gewidmet, was ich mein Leben lang auch gerne gemacht habe, und Schreiben wurde mein Beruf. Ich habe Sprache schon in der Schule geliebt und kann heute noch einen Jambus von einem Trochäus unterscheiden. (Ich weiß auch nicht, warum mich das interessiert hat). Andi hingegen hat ein dürftiges Abitur hingelegt, weil er nicht gerne zur Schule gegangen ist, und sein Architekturstudium mit Bravour absolviert, als ihn plötzlich interessierte, was ihn umgab. Er ist brillant, wenn es ans Entwerfen geht; und schimpft, wenn es ans stumpfe Abarbeiten von Rechnungen geht.

Wir werden alle mit Maschinen im Wettbewerb stehen
Bei der Umsetzung des vordergründig einfachen Prinzips „Wir lernen nur im Spiel“ allerdings, rennen Andi und ich gegen unsere eigenen Wände. Unsere Erziehung, unsere Schul-, Bildungs- und Berufslaufbahn, hat uns scheinbar einen klaren Weg gewiesen, der uns „Erfolg“ beschert. Die Botschaft dieses Weges: Zum Lernen, zum Vorankommen, gehören Disziplin, Dranbleiben und Pauken. Man sammelt Zertifikate, Abschlüsse und Bestnoten. Und dann wird das alles schon. Dabei wissen wir alle, dass wir vor einer großen digitalen Revolution stehen. Dass mehr und mehr Arbeit von Maschinen übernommen werden wird. Nicht nur der Busfahrer, die Verkäuferin, der Bauarbeiter wird mit Maschinen konkurrieren, die billiger und zum Teil besser arbeiten als wir Menschen. Nein, es wird uns allen an unsere materielle Existenz gehen. Algorithmen schreiben News, Maschinen durchforsten Gesetzestexte, Digitalplotter bringen das Haus auf’s Fundament, Alexa führt Touristen durch fremde Städte. Das ist die Wirklichkeit. Und daher wird es mehr und mehr darauf ankommen, dass wir genau das ins Rennen werfen, was wir gerne und gut machen!

Das allerdings ist bei den meisten von uns – auch bei uns selbst – noch nicht richtig angekommen. Mit wem auch immer man über freies Lernen redet (außer mit den überzeugten Freilernen selbstverständlich), sofort kommen dieselben Einwände: Aber die Kinder brauchen doch Mathematik, Deutsch, Englisch. Sie müssen doch rechnen, schreiben und lesen können. Ohne Schule keine Bildung keine Zukunft.

Unsere Beobachtungen aus Monaten Freilernen

Liv sitzt im Schrank und liest.

Liv sitzt im Schrank und liest.

Ich beschreibe Euch jetzt einmal die Beobachtung der letzten drei Monate:

An Liv, unserer Jüngsten, sehen wir gerade, wie selbstverständlich sie lesen und schreiben lernen will. Zuerst versuchte sie sich an ihrem Namen (den sie stets fröhlich vor sich hinkritzelt, auf Papier oder Fußböden, da machte sie keine Unterschiede). Und jetzt spielen Fannie und Liv oftmals „Schule“ und am Ende des Tages kann Liv wieder mal ein Wort mehr schreiben. Sie plappert das Alphabet herunter, zählt bis hundert und drückt sich teils so gewählt aus, dass wir nur staunen, wo sie das her hat. Sie inspiriert und überrascht uns mit ihren Gedankengängen („Mama, der Herr Gott hat das Wetter gemacht“ oder „Mama, es gibt gar keinen Arsch der Welt. Es gibt auch kein Ende der Welt. Die Erde ist nämlich eine Kugel“ und vielen lustigen Erkenntnissen mehr) Wir haben Liv nie vor ein Buch gesetzt und haben ihr gesagt, sie soll jetzt „lernen“.

Fannie ist mit Spaß dabei, wenn es um fotografieren, kochen, häkeln, mithelfen, schreiben, CD hören, lesen, Waltons gucken und Tiere kümmern geht. Sie bearbeitet Fotos intuitiv, sucht sich selbst Rezepte raus, die sie kochen will, melkt Ziegen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Und erstaunt uns immer wieder mit ihren messerscharfen Analysen zu zwischenmenschlichen Beziehungen oder ihren höchstpräzisen Beobachtungen von Menschen. Wenn sie allerdings Englisch lernen „muss“, streikt sie gerne. Die Mathe-Übungsmappe ist ganz ohne unser Zureden bereits fix und fertig ausgefüllt. Die Englisch-Mappe dümpelt so ein bisschen vor sich hin.

Paul schafft es, sich stundenlang ans Meer zu stellen und die Angel mit einer ungewöhnlichen Geduld ins Wasser zu halten. Er hat sein neues Angelbuch inhaliert und baut Angeln mittlerweile mit geschlossenen Augen zusammen und auseinander. Wenn er jemanden trifft, der angelt, spricht er ihn sofort an: Hast Du eine Steckangel oder eine Teleskopangel? Welchen Köder verwendest du? Worauf gehst du? Wie tötet man einen Oktopus – just in case, dass er einmal einen fängt. Paul weiß alles über die Mavic Pro, unsere Drohne. Er fliegt sie besser als jeder andere aus der Familie. Er schaut sich stundenlang Youtube-Videos an, mit welchem Equipment man den Flugeinsatz optimieren kann. Er ist der Meister in der Entwicklung von Geschäftsideen – das war er schon immer (und hatte den ersten Brötchenservice in unserer Straße zuhause).

So, und nun kommen wir zu unserem pädagogischen Hickhack.
Wir sitzen auf mindestens eineinhalb Meter Schulbildung. Gesellschaftslehre, Deutsch, Mathematik, Englisch, was man halt als Schulbücher normalerweise im Ranzen mit sich herumträgt. Sie stapeln sich im T3 und jetzt, in unserer Winterpause auf Kythera, neben unserem Esstisch. Die erste Zeit der Reise haben wir die Bücher als schwere Bürde empfunden. Eine täglich sichtbare Mahnung, was die Kinder gerade in der Schule verpassen. Während wir versuchen, eine freie Bildung zu leben, quält uns der tägliche Anblick von tausenden ungelesenen Seiten Schulwissen. Nach anfänglichem fast panischem Abarbeiten von Seiten und Kapiteln, gehen wir jetzt erst etwas entspannter damit um. Andi und ich suchen zu Raum und Zeit passende Kapitel heraus und die Kinder erarbeiten die Inhalte. So setzt sich Paul gerade mit dem antiken Griechenland auseinander und lernt, wie ein Gewitter entsteht. Fannie quält sich etwa mit Englisch-Grammatik. Doch mehr und mehr lösen wir uns von der Pflicht des Durchackerns. Aber so ganz kommen wir aus unserer Haut nicht heraus.

Wir unterbrechen die Geburt einer Business-Idee
Ein Beispiel: Heute morgen sitzen alle drei im Bett und häkeln. Paul will von Fannie häkeln lernen. Die hat in nur zwei Tagen eine Mütze fertiggestellt, indem sie mit unserer Nachbarin in Köln ein paar Whatsapp-Nachrichten ausgetauscht hat. Fannie hat die Mütze Liv geschenkt und sofort eine Business-Idee daraus entwickelt: Sie will Mützen häkeln, mit ihrem eigenen Label versehen und über das Internet verkaufen. Paul, ganz in seinem Business-Gen-Element, will in die Produktion einsteigen. So, und nun kommen wir Erwachsenen: Ich unterbreche die Häkelei und verschiebe sie auf „nach dem Lernen“. Gerade sitzen sie also über einem Referat über Gewitter und an Englischübungen, weil Fannie unseren Gesprächen, die wir hier führen, häufig noch nicht richtig folgen kann. Liv malt.

Jetzt frage ich mich (und Euch): Machen wir das wirklich richtig? Hätten wir die Drei nicht in ihrer einträchtigen Häkelei verweilen lassen sollen? Wäre das nicht wichtiger, als unseren „Lehrplan“ einzuhalten? Oder „müssen“ wir geradezu bei der Themenfindung mithelfen und die Ausarbeitung begleiten?

Für mich steht fest: Wir Erwachsenen müssen noch mächtig am „Freilernen“ unserer Kinder arbeiten; uns vielmehr dem Zeitplan und dem Tempo der Kinder anpassen. Geduldiger werden. Je ruhiger es wird, desto tiefer sind sie im „Spiel“ versunken, desto intensiver lernen sie. Ich persönlich möchte mehr Vertrauen in die Kinder gewinnen, ihnen noch mehr zutrauen, und mir sicher sein, dass sie ihren Weg gehen werden. Dass wir das Richtige tun. Wir Erwachsene müssen noch viel lernen. Aber wir stehen ja auch gerade erst am Anfang!