Karen Kern gehört zu den Pionieren der Freilerner in Deutschland. Im Interview mit AUF NACH NEULAND sagt sie: „Vertraut auf Eure Kinder, unterstützt sie bei den Themen, bei denen sie Unterstützung brauchen…()… Und fördert das natürliche Interesse Eurer Kinder an der Welt, indem Ihr viel mit ihnen redet.“
Karen, wir sind eine Familie mit drei Kindern, die ab August ein Jahr reisen werden und von unterwegs über uns, aber auch klassisch journalistisch über Land, Leute und Europa berichten werden. Seit wir uns im April 2016 zu der Reise entschieden haben, und die Reisepläne nach und nach publik machen, haben wir wohl kaum eine Frage öfter beantwortet als: „Wie macht Ihr das mit der Schulpflicht?“. Wie kann das sein, dass die Schulpflicht die Menschen mehr umtreibt als alles andere?
Bildung wird in unserer Gesellschaft mit Schule und schulischem Lernen gleichgesetzt. Die Schulbesuchspflicht wird nicht in Frage gestellt. Jeder Erwachsene hat schon die Schule besucht, unsere Eltern haben die Schule besucht, daher ist es für die allermeisten Menschen völlig selbstverständlich, dass junge Menschen in die Schule zu gehen haben. Außerdem ist es ja auch nicht so einfach, eine Befreiung von der Schulpflicht zu erreichen. Daher kommt wohl diese Frage immer als erstes und nicht die Frage, wohin eure Reise geht und wie Ihr das dann mit der Bildung regelt. Bei letzterem gehen wahrscheinlich auch die meisten Menschen davon aus, dass Ihr halt irgendwie schulisches Lernen in den Reisealltag integriert.
Ihr meint, man sollte sich lieber mit Wegen eines selbstbestimmteren Lernens auseinandersetzen als mit dem rein formal juristischen Akt, die Kinder aus der Schule zu bekommen?
Nein, das meinen wir nicht. Für uns ist beides wichtig. Wenn Familien sich in Deutschland für Bildung ohne Schule entscheiden, dann müssen sie sich aufgrund der Schulpflichtregelungen mit diesen auseinandersetzen. Wer seine Töchter und Söhne sich selbstbestimmt bilden lassen will, wird gar nicht anders können, als sich damit auseinanderzusetzen, werden diese Eltern doch täglich damit konfrontiert. Hier gilt es dann oft, das eigene Bild von selbstbestimmter Bildung zu korrigieren, den Blick dafür zu schärfen, was Lernen denn in all seinen Facetten bedeutet und das Vertrauen zu entwickeln, dass die eigenen Töchter und Söhne alles lernen, was sie zum Leben brauchen.
Auch auf gesellschaftlicher Ebene braucht es beide Diskussionen, sowohl die Diskussion über die Notwendigkeit der Schulbesuchspflicht als auch über die Themen „selbstbestimmte, selbstorganisierte und informelle Bildung“. Die Schulpflicht bedeutet einschneidende Einschränkungen der Grundrechte für junge Menschen. Da ist die Frage, ob dies noch zeitgemäß ist.
Schon 1972 kommt die Faure-Kommission der Unesco zu dem Schluss, dass informelles Lernen rund 70 Prozent aller menschlichen Lernprozesse umfasst. Viele Freie Aktive Schulen und junge Menschen, die selbstbestimmt ohne Schule lernen, zeigen, dass der Bildungsalltag weitaus mehr von selbstbestimmtem, informellen Lernen geprägt sein könnte, als dies normalerweise in der Schule praktiziert wird.
Schulisches Lernen und Unterricht ist sicher nicht schlechter oder besser als freies Lernen. Aber die Nachfrage nach Bildung außerhalb der Schule zeigt, dass in diesem Bereich Änderungen erforderlich sind. Für viele junge Menschen sind die Strukturen in der Schule eher hinderlich für’s Lernen oder die familiäre Situation verlangt eine andere Lösung als den Besuch einer Schule. Wesentlich für mich aber ist, dass junge Menschen das Recht haben sollten, ihre Bildung selbst zu bestimmen.
Dazu gehört dann aber ein großes Vertrauen in die Kinder…
Jeder Mensch kommt mit einem ausgeprägten Lernwillen auf die Welt und lernt von klein auf beständig dazu. Krabbeln, Sitzen, Laufen, Sprechen lernt ein Kind zwar zum Teil in der Interaktion durch Nachahmung anderer, aber die Initiative, sich weiter zu entwickeln, kommt aus dem Menschen selbst. Warum sollte dies bei Schuleintritt dann plötzlich anders sein?
Es ist aber mit unserer gesellschaftlichen Vorstellung von Bildung ganz normal, dass Eltern in dieses Vertrauen erst hineinwachsen müssen, auch wenn sie sich vorher schon in das Thema eingelesen haben. Die Praxis sieht dann doch meist anders aus, und kann einen doch herausfordern, seine Sichtweise über Bildung zu ändern.
Ihr habt Eure Kinder über Jahre selbstbestimmt lernen lassen. Wie war das für Euch?
Wir haben zwei Töchter und drei Söhne. Zwei unserer Söhne haben sich mit 11 und 14 Jahren entschieden, nicht mehr weiter in die Schule zu gehen. Ein Jahr später kamen dann noch unser 9jähriger Sohn und unsere 18jährige Tochter dazu. Wir haben ihre Entscheidungen akzeptiert und sie dann in ihrem selbstbestimmten Lernen über Jahre hinweg begleitet, davon einige Zeit in Deutschland und ein paar Jahre in England. Überall haben wir uns vernetzt – mit verschiedensten Menschen, darunter sowohl Freilerner als auch Schulbesucher. In Deutschland waren wir in den Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. (BVNL) und in die Initiative für selbstbestimmtes Lernen eingebunden und wurden hier vor allem in Bezug auf die Behördenauseinandersetzungen unterstützt. Auch in England haben wir uns verschiedenen Home Education Gruppen angeschlossen. Wir haben auch immer das breitgefächerte Bildungsangebot genutzt, welches sich in unserer Umgebung bot – Bibliotheken, Museen, Kurse, Vereine, Zeitungen, das Internet… Beispielsweise hat unser Sohn als Freiwilliger in einem Freilichtmuseum gearbeitet und dort Besucherfragen beantwortet, er war regelmäßig in einer Pfadfindergruppe, bei Drechselkursen, und vielem mehr.
Heute sind alle unsere Kinder erwachsen. Die vier Freilerner haben Schulabschlüsse als Externe erworben. Die systematische Vorbereitung auf die Abschlüsse war bei allen kürzer, als sie dafür in der Schule gebraucht hätten. Heute leben alle als eigenständige Persönlichkeiten, die ihren Weg gehen.
Die Auseinandersetzung mit den Behörden in Deutschland war teils anstrengend, teils aber auch entspannend, da es zwischendurch immer auch Zeiten gab, in denen nichts passierte. Wir haben uns für zwei von drei Bußgeldverfahren vor Gericht verantwortet, das dritte wurde eingestellt. Schlussendlich haben wir diesen Aspekt aber vor allem als spannende intellektuelle Herausforderung angenommen, viel dabei gelernt, und unsere ganze Familie ist daran gewachsen.
Heute unterstützt Ihr mit der Freilerner-Solidargemeinschaft Familien, deren Kinder nicht im gewohnten Schulbetrieb lernen wollen oder können. Was erwartet Eltern, die diesen Weg innerhalb Deutschlands gehen wollen?
Zunächst einmal erwarten sie viele Fragen und oft auch viel Unverständnis. Außerdem erwartet sie die Herausforderung, ihre Töchter und Söhne bei der Umsetzung ihrer selbstorganisierten Bildung zu unterstützen – im Hinblick auf akademische, praktische und soziale Kenntnisse und Kompetenzen, auf gesellschaftliche Werte und auf soziale Kontakte. Falls es ihnen nicht gelingt, aufgrund der individuellen familiären Situation eine von den Behörden akzeptierte oder geduldete (oder unbeachtete) Lösung zu erreichen, erwartet sie eine in Regel langwierige und mühsame Auseinandersetzung mit Behörden und Gerichten. Dazu kann je nach Situation vieles gehören: Gespräche mit vielen verschiedenen Stellen und Personen, Bußgeldverfahren, teilweise Aufforderungen zu psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungen, Sorgerechtsverfahren, eventuell auch eine zwangsweise Zuführung zur Schule oder gar Strafverfahren.
Und wie helft Ihr den Familien?
Wir beraten Familien, wenn sie sich für diesen Weg entscheiden oder Hilfe bei der Entscheidung brauchen. Wir klären sie darüber auf, was alles auf sie zukommen kann. Da jede Familie in ihrer ganz individuellen Situation steckt, mit ihren eigenen Bedürfnissen, Ängsten und Vorlieben, schauen wir zusammen mit jeder einzelnen Familie, welches für sie ein stimmiger Weg sein kann. Viele begleiten wir auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Wir können Familien, die in gerichtliche Auseinandersetzungen geraten, auf Antrag bei den Anwaltskosten unterstützen. Auch helfen wir bei der Suche nach Begleitung zu Gesprächen oder nach Anwälten, die sich mit diesem Thema auskennen.
Für uns stehen die Rechte junger Menschen im Vordergrund, daher konzentrieren wir uns in unserer Arbeit auf die Beratung der Familien, denen dies ebenfalls wichtig ist.
Zusätzlich zur Unterstützung der Familien organisieren wir seit drei Jahren Kolloquien, um die Diskussion rund um die Themen „Rechte junger Menschen“, „Selbstbestimmte Bildung“ und „Bildung ohne Schulbesuch“ in unserer Gesellschaft zu intensivieren.
Bei Eurer freiberuflichen Beratung „Kern Bildung“ geht es dann eher um das selbstorganisierte Lernen. Was bietet Ihr für wen an?
Auch wenn uns persönlich selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung am Herzen liegt, beraten wir nicht nur Menschen, die für sich oder ihre Töchter und Söhne genau diese Art der Bildung verwirklichen wollen. Wir haben zwei unterschiedliche Programme, eines, in dem wir vor allem junge Menschen bei ihrer selbstbestimmten, selbstorganisierten Bildung begleiten. Dieses ist vor allem für junge Menschen im Primar- und Sekundarstufenbereich I gedacht. Das andere ist die Begleitung bei der Vorbereitung auf Schulfremdenprüfungen für die staatlichen Schulabschlüsse. Bei der Betreuung Jüngerer geht es in der Regel darum, ergänzend zu den Eltern noch für die Bildung mitverantwortlich zu sein. Wir unterstützen bei der Planung und der Dokumentation. Wir beantworten Fragen und helfen, wenn es Probleme zu lösen gibt oder bei der Suche nach geeigneten Lernmaterialien. Wenn jemand in diesem Bereich seinen Lernalltag klarer strukturieren will, dann ist dies mit uns ebenfalls möglich. Bei der Vorbereitung auf die Abschlüsse geht es darum, die vorgegebenen Themen in einen Lernplan umzusetzen, beim Finden einer Tagesstruktur zu unterstützen, geeignetes Lernmaterial zu finden – denn nicht jeder kann mit den gleichen Materialien arbeiten – und Rückmeldung zu Aufgaben und dem Lernstand zu geben. Bei selbstständigen Klienten reicht oft eine einführende Beratung, mit anderen stehen wir in regelmäßigem Austausch per Skype, E-Mail oder Telefon.
Hat sich die Anzahl der Anfragen im Laufe der Zeit verändert?
Das Interesse am Freilernen wächst beständig, vor allem aber, weil immer mehr Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen, z.B. Überforderung, Unterforderung, Mobbing, um nur einige zu nennen, in der Schule nicht mehr zurechtkommen. Zunehmend sind es aber auch die jungen Menschen selbst, die klar formulieren, dass sie dort nicht mehr hingehen wollen, sehr oft mit der Begründung, dass sie ihre Bildung selbst bestimmen wollen.
Für uns als Familie ist Freilernen ein riesiges Experiment. Wir selber wären nicht auf die Idee gekommen, die Kinder in Deutschland anders als in der Schule lernen zu lassen. Jetzt freuen wir uns aber sehr auf die intensive Zeit mit unseren Kindern. Was könnt Ihr uns mit auf den Weg geben?
Vertraut auf Eure Kinder, unterstützt sie bei den Themen, bei denen sie Unterstützung brauchen. Das kann Materialsuche bedeuten, ein Besuch in einem Museum oder die Suche nach einem Experten für ein Thema u.v.a.m. Fördert das natürliche Interesse Eurer Kinder an der Welt, indem Ihr viel mit ihnen redet. Nehmt Eure Umwelt und das Alltagsgeschehen zum Anlass. Wenn Ihr auf Reisen seid, wird das alles aber auch ganz automatisch geschehen. Unserer Erfahrung nach werden auf diese Weise viele, viele Themen angeschnitten und erarbeitet, darunter meist auch viele Themen des Bildungsplanes. Es ist auch weniger ein Problem an Informationen zu kommen, als die für sich richtigen Informationen zu finden. Büchereien wie auch das Internet bieten eine Fülle an Informationen. Auch wer eher im klassischen schulischen Sinne lernen will, wird im Internet fündig. Es gibt Lernmaterialien zum Herunterladen, aber auch Lernportale, mit denen man sich die schulischen Inhalte aneignen kann.
Wichtige Adressen für Freilerner
BVNL Bundesverband Natürlich Lernen! e.V.
Freilerner-Solidargemeinschaft e.V.
Kern-Bildung: Beratung
Clonlara Offcampus Programm
Schule unterwegs
Schule für Circuskinder NRW
Europäisches Forum für Freiheit im Bildungswesen
Lernportale
Planet Wissen
Planet Schule
The Simple Club
Über Karen Kern:
Karen und Matthias Kern haben vier ihrer fünf Kinder ohne Schule lernen lassen. Karen ist Protagonistin im Film „Being and Becoming“ von Clara Bellar und im Film „Schulfrei“ von Anne Sono. Als Lehrerin hat sie an staatlichen Schulen und Freien Alternativschulen gearbeitet und bei der Gründung zweier Schulen mitgewirkt. Sie hat fast 10 Jahre lang ihre jetzt erwachsenen Kinder beim selbstbestimmten Lernen ohne Schule begleitet. Von 2009 bis 2014 hat sie das deutschsprachige Programm der Clonlara Schule geleitet und betreut. Jetzt berät und begleitet sie junge Menschen und ihre Familien durch ihre eigene freiberufliche Bildungsberatung „Kern-Bildung“ sowie ehrenamtlich über ihre Arbeit innerhalb der „Freilerner-Solidargemeinschaft e.V.“ Sie hält außerdem Vorträge über Themen rund um Bildung ohne Schule.
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