Wegen eines Krankheitsfalls in der Familie sind wir in Deutschland. In ein paar Wochen und nach dem Innenausbau unseres Wohnmobils soll es wieder losgehen. Wir nutzen die Zeit, um nachzuforschen: Haben diese 100 Tage Reise etwas bewegt? Unser Fazit: Sabbaticals gehören in jeden Arbeitsvertrag und auch die rigorose Schulpflicht sollte überdacht werden.

Back to Grey
Als wir nach vier Monaten Reise Ende Januar in Köln Ehrenfeld einfuhren, hätte die Stimmung nicht trostloser sein können. Aschfahl und bleischwer lag das Grau über der Stadt und schob sich unbarmherzig unter unsere Mützen. Aber wem sag ich das. All das, was wir vor unserer Reise als selbstverständlich akzeptiert hatten, stach uns plötzlich in die Augen. Einige Szenen werden mir im Gedächtnis bleiben: Eine alte Dame, die wahrscheinlich ihr Enkelkind von der Schule abgeholt hatte und versuchte, zwischen hupenden Autos, die sie von allen Seiten bedrängten, die Fahrräder anzuschließen. Oder aber der Autocorso vor der Lindenbornschule, morgens kurz vor acht. Hektische Mütter in dicken Autos, die ihre Kinder fast aus der Autotür schubsen, während der Rest hinter ihnen hupt. Der Stau, als wir uns auf den Weg in den Westerwald gemacht haben. Ein Kind, das erzählt, dass es nun viel beliebter in der Schule ist, weil es eine Playstation hat. Solche Dinge.

Dazu kommt, dass wir versucht haben, unterwegs deutsche Nachrichten zu meiden. Kurz nach der Ankunft also Informationen aus Radio, Fernsehen, Internet: SPD und CDU beginnen Koalitionsgespräche. HALLO, wir haben doch noch brav persönlich unsere Stimme abgegeben, BEVOR wir auf Reisen gegangen sind. Dann im Frühstücksfernsehen: Auftragsbücher deutscher Unternehmen voll. Man findet kaum Facharbeiter. Gleichzeitig die Information: Gespräche zwischen Arbeitgebern und der Gewerkschaft (ich glaube, es war die IG Metall) ohne Ergebnis abgebrochen – man findet keine Einigung bezüglich Anstieg der Gehälter und einer Arbeitszeitreduzierung. Von einer gescheiten Einwanderungspolitik höre ich nichts. Ich steige wieder aus.

Die ersten Tage in Deutschland waren grell. Sie führten uns in Lichtgeschwindigkeit und mit ungeahnter Wucht vor Augen, wie wir leben. Abgesehen von kleinen schönen Fluchten sind wir Teil dieses Karussells.

Während ich am ersten Tag nach unserer Ankunft noch euphorisch vom Reisen und der Reduzierung auf’s Wesentliche geschwärmt habe, ging mir wenig später die Luft aus. Ich hatte das Gefühl, alles ist noch exakt genau so wie vor unserer Abreise.

Oder doch nicht? Da hat sich doch etwas getan.

Wir alle schäumen über vor Kreativität. Ich entwickle Medienkonzepte und denke mir subversive politische Kampagnen aus. Fannie häkelt und näht, Andi designed das Innere unseres Womos, mit dem wir schnell wieder auf Tour wollen. Paul entwirft ständig neue Maschinen, die das Leben leichter machen sollen, Liv malt, tanzt, swingt durch die Welt.

Wir sind alle ruhiger geworden. Meine größter Schwäche ist Ungeduld. Und das ist gleichzeitig auch einer der Punkte in meinem Leben, die mich am meisten an mir selbst stören – und die mich oft vom Wesentlichen abgehalten hat. Ich entdecke, dass ich den Kindern jetzt besser zuhören kann, ihnen mehr Raum geben kann. Ich kann eher vermitteln, während ich sonst oft mit einer Axt durch den Wald gelaufen bin. Ich bleibe länger bei einem Thema. Aber: Ich halte selbstverständlich nicht dem Vergleich mit Andi stand – aber das wäre in Anbetracht seiner Geduldsstricke auch vermessen.

Ich sehe positiver. Lasse mich weniger von Ärger treiben, bin versöhnlicher, langmütiger. Das merke ich in Begegnungen, in Themen, die uns schon seit Jahren begleiten. Wir schauen lösungsorientierter, fokussierter auf „unsere kleine Welt“ und deren Gedeihen. Die großen Themen sehen wir weniger besorgt als früher, eher konstruktiv und anpackend.

Wir können besser loslassen. Jahre lang haben wir einen Fuhrpark bestehend aus einer Vespa, einem alten Volvo, einem Nugget und einem VW T3 vor uns her gepflegt. Wir konnten ihn nicht verkleinern, trotz einiger zaghafter Anläufe. Jetzt stehen Vespa, Volvo und Nugget zum Verkauf. Ohne auch nur den Hauch eines Verlustgefühls. Bereichert uns Besitz, in dem er uns die Freiheit gibt, unser Leben so zu leben, wie wir es leben wollen, ist es gut. Beschränkt er uns – weg damit.

Wir betreiben eine Innenschau. Mehr denn je fragen wir uns, wie wollen wir leben. Was ist wichtig? Was gehört für uns zu unserem Leben dazu. Der Nachteil: Das Ganze fordert viel Aufmerksamkeit, Disziplin, Mut. Altes in Frage zu stellen, führt immer auch zu Blessuren.

Alle packen mit an. Schon vor der Reise haben die Kinder sich zwar an den Planungen beteiligt. Jetzt sprühen sie voller Ideen, wie wir das Wohnmobil mit dem wir weiterreisen werden, gestalten können. Wir diskutieren die einzelnen Vorschläge und jeder hat das Recht, mitzuplanen und zu -gestalten. Wir wissen besser als vor unserem Aufbruch Anfang Oktober, was wir mit auf Reisen nehmen wollen, und was getrost zuhause bleiben kann.

Wir sind organisierter, aber entspannter, geworden. Wir arbeiten mit Tages- und Wochenplänen. Sowohl beim Lernen als auch beim Organisieren unseres neuen Reiseabschnitts. Das tut uns allen gut und ist in Anbetracht der Lernsituation der Kinder von Vorteil. Generell gilt: Wir passen unser Konzept ständig an, überdenken und verändern es gemeinsam mit den Kindern. Sie lernen dadurch, sich selbst und eine Situation zu organisieren. (Zum Thema Lernen auf Reisen gibt es am Mittwoch einen Zwischenbericht – Seid gespannt)

Körperliche Auswirkungen. Andi litt vor unserer Reise fast täglich unter Kopfschmerzen. Ich selbst fand allzu oft keinen Schlaf. Die Kinder waren fit, allerdings hatten sie wie viele hier Allergien oder Erkältungskrankheiten. Heute hat Andi nur noch in Ausnahmen Kopfschmerzen, ich selbst schlafe weitestgehend durch, die Kinder waren auf der Reise nicht ein einziges Mal auch nur annähernd krank. Ein Wermutstropfen: Unsere sportliche Performance leidet doch stark. Trotz gelegentlichem Lauftraining und Fitnessübungen waren wir schon deutlich fittet. Das muss ich ändern!

Unser 100-Tage-Fazit

Vergleichen wir uns vor der Reise und jetzt, nach nur vier Monaten auf Tour, so sind wir keine anderen Menschen. Aber wir haben uns in vielfältiger Weise weiterentwickelt. Körperlich und seelisch sind wir stabiler. Wir haben Motivation, Ideen, Inspirationen getankt. Und wir wollen nicht so schnell wieder damit aufhören. Einen Teil unserer Kraft wollen wir – auch über unseren Blog – an Euch abgeben. Wir haben so viel Feedback bekommen. So viele Menschen sind mit uns auf Reisen und das ist uns eine große Ehre.

Mein persönliches Fazit: Sabbaticals gehören in jeden Arbeitsvertrag. Und auch die rigorose Schulanwesenheitspflicht angesichts gravierender gesellschaftlicher und technologischer Veränderungen gehört auf den Prüfstand. Letzteres ist Thema der nächten Inneneinsichten aus der Phase „Daheim“.