Darmstadt ist nicht Courou. Und ich bin nicht Thomas Reiter. Und dennoch fühle ich mich gerade, als sei ich höchstselbst auf dem Web in den Orbit. Wie haben die das nur geschafft?
Doch zurück: Es ist Montag abend, 21 Uhr. Die Kinder winken ein letztes Mal, obwohl sie längst im Bett liegen sollten. Draußen regnet ein kalter Märzregen auf mich nieder. Das anheimelndste an der Straßenbahnhaltestelle sind die Lichter der beleuchteten Wohnzimmer rund herum. Pfützen, in die es leise hineintropft. Und ein paar Gestalten, die wie ich über ihre Smartphones wischen. Noch rasch Whats-Apps verschicken: „Auf dem Weg nach Darmstadt. Darf live bei einem Satellitenstart bei der ESA dabei sein.“ ESA, das große Raumfahrtkino. „Mann, Du hast’s gut“. Der Weltraum fasziniert schon, wenn man nur mal in die Sichtweite von Menschen kommt, die Raketen in den Orbit schicken. Oder sich selbst in eines dieser Vehikel gequetscht haben.
Auf der Fahrt
Im IC versuche ich ein wenig die Augen zu zu machen, denn die Nacht wird lang. Raketenstart um 2.49 Uhr unserer Zeit. Ende der Veranstaltung um 4. Da steh ich sonst fast wieder auf. Ein bisschen vorschlafen müsste eigentlich sein, doch mit einem Ohr fange ich das leise Gespräch meiner Sitznachbarn auf und luge hinüber auf den aufgeklappten Monitor des Laptops gegenüber. Das sind doch Satellitenbilder. Und dann wird da genuschelt und getuschelt von Forschungsanträgen und -aufträgen, dass ich irgendwann frage: „Fahrt Ihr auch zur ESA“? Und tatsächlich, im menschenleeren IC sitzen mir genau zwei gegenüber zwei Space-Besucher.
Die junge Frau geht die Antworten auf die Fragen durch, die ihr auf der Bühne das Launchevents von Sentinel 2b gestellt werden. Sie habe exakt drei Minuten, um das Projekt ihres Unternehmens vorzustellen. Ja, mit den Satellitenbildern der ESA aus dem Copernicus-Projekt lässt sich Geld verdienen, und das ist gewollt so. Schließlich wird die Erdbeobachtungsmission von europäischen Steuergeldern finanziert und die Ergebnisse der fleißigen Wachposten im All sollen in Wert gesetzt werden. Also konzentriert sich die junge Frau gerade auf das, was ihr Unternehmen aus den Satellitenbildern macht – nämlich wichtige Informationen für allerlei Anwendungsfälle. Und Kunst. Denn der Blick auf die Erde aus einer Entfernung von rund 800 Kilometern ist nicht nur lehrreich und informativ, sondern er birgt beinahe überirdische Schönheit.
Spätestens um Mitternacht wird klar, dass die durchgetaktete Präzision der Raumfahrt auf der Erde keinen Platz hat. Zumindest nicht, wo ich gerade bin. Mit 40 Minuten Verspätung trifft der IC in Mainz ein. 40 Minuten, da wäre ein Astronaut längst in die Schwerelosigkeit eingetaucht. Auf der Erde aber sind 40 Minuten dehnbar. Und lang. Die Anschlusszüge werden selbstverständlich nicht erreicht. Zum Glück gibt es noch zu allem bereite Taxifahrer. Pünktlich um 1 Uhr landen wir an den Sicherheitsschleusen des European Space Operation Center ESOC in Darmstadt.
Im Herzen von Europas Raumfahrt
Da bin ich also. Mit Batch und Bändchen stehe ich in Europas Tor zum Weltraum. Aus diesen Gebäuden des ESOC werden Europas Satellitenmissionen gesteuert und komplizierte Rettungsaktionen organisiert, wenn’s sein muss. Europas Who is Who der Raumfahrt ist heute vor Ort.
Und jetzt? Im Erdgeschoss ist Partystimmung. Ein DJ legt auf, Menschen recken ihre Mobiles in die Höhe, filmen live aus Darmstadt. Ja was filmen sie denn? Oben startet die Choreographie der Launchnacht. Es hat schon etwas Surreales. Da bereiten in Französisch Guyana die Mitarbeiter des Weltraumbahnhofs einen der monatlich durchgeführten Raketenstarts vor, und im ESOC ist Party. Es ist das erste Mal, dass die ESA einen Satellitenlaunch derart medienwirksam in Szene setzt. Nicht nur die üblichen Journalisten sind geladen, über 100 Blogger und Social-Media-Multiplikatoren aus aller Welt sind vor Ort, um den Launch zu verfolgen und über ihre Kanäle zu verbreiten. Die ESA will die Welt von ihren Missionen wissen lassen, sie begeistern für ihr Arbeit, erklären, warum Milliarden investiert werden, um den Planeten zu erforschen. Und tatsächlich, es wird gebloggt, gefacebookt und getwittert, was das Zeug hält. Mobiles machen in Livestreams die Nacht zum Tag. Unter dem Hashtag #sentinel2go läuft Twitter heiß. Über 15.000 Tweets zählt die ESA in der Nacht von Montag auf Dienstag. Womit rund 20 Millionen Menschen über Social Media erreicht worden sein sollen. Das Investment hat sich schon jetzt für die ESA gelohnt. Während ein Satellitenstart für das Umweltmonitoring-Programm Copernicus den üblichen Medien vielleicht einen 1 Minuten 30-Beitrag entlockt, flippen die „Spacetweeps“, wie sich die Weltraum-Blogger-Szene nennt, geradezu aus. Jede Minute der Launch-Session wird gecovert. Und langsam packt es auch mich. Ich gehe Live auf der Seite von Intergeo-TV.
Sentinels – Anwendungen zuhauf
Quelle: ESA
Worum geht es eigentlich? Der Star der Nacht, Sentinel-2B, ist der Zwilling des 2015 ins All gebrachten optischen Satelliten Sentinel 2A. Gemeinsam mit einer ganzen Reihe anderer Satelliten der Sentinel-Familie bildet er das weltweit wohl wichtigste Umwelt-Monitoring-Projekt Copernicus. weltraumkomponente Die Wachposten im All sehen das, was uns Menschen mit unserer Boden-Perspektive und auch mit Flugzeugen und Drohnen aus naher Entfernung verwehrt bleibt: Der rücksichtslose, unbestechliche Blick auf Prozess und den Zustand des Planeten. Umweltverschmutzung an Küsten und in Flüssen, Zustand und Art von Vegetation in Wäldern und auf landwirtschaftlichen Flächen, Vulkanausbrüche, Gletscherschmelze, und so weiter. Während das alles noch recht abstrakt und eher wissenschaftlich anmutet, bringt die hohen Auflösung jede Menge ganz praktischer Lösungen zutage. So testet die Verwaltung gerade, wie Sentinel-Daten eingebunden werden können, um großflächige Bodenbewegungen zu messen, wie sie durch Erosion oder Bergbauaktivitäten entstehen. Kommerzielle Angebote entstehen täglich. Beim Ideenwettbewerb von Copernicus, den Copernicus Masters lassen sich die Fachleute ausgefallene Tools und Apps einfallen: Vom Parkraummanagement auf Autobahnrastplätzen bis zur Verfolgung von gestohlenen Fahrzeugen mittels speziell entwickelter Chips ist alles dabei. Copernicus praxisnah. Bislang hat Sentinel-2A alle zehn Tage Bilder von Äquatorregionen gesendet, mit seinem Zwilling soll sich der Zeitraum nun auf fünf Tage verringern. Je weiter nördlich man kommt, desto kürzer werden die Aufnahmezyklen. In Skandinavien soll das Duo nun sogar ein tägliches Update liefern. Geht es um schnell ablaufende Prozesse, sind die beiden Satelliten im Team nun bei weitem einsatzfähiger. Bianca Hörsch, die Sentinel Mission-Managerin der ESA beschreibt einen Fall, der noch vor kurzem in einem Desaster hätte enden können: Die Sentinel-Familie hatten Risse im Eis des antarktischen Schelfs entdeckt, die sich mit einer Geschwindigkeit von 200 Meter pro Tag durch das Eis frästen. Dank der aufmerksamen Beobachter konnte eine britische Forschungsstation evakuiert werden, bevor das Schelfeis zerbrach.
Wenn schon nicht die Welt retten
Auf den vier Bühnen im ESOC präsentieren die Moderatorinnen Copernicus-Anwender, Start-ups, Wissenschaftler und Unternehmer aus den Bereichen Land und Ernährung, Technologie und Business, Stadt und Gesellschaft und Meere und Küsten. Die beiden flanieren von Bühne zu Bühne und stellen Menschen vor, die aus den Bildern von Copernicus wertvolle Informationen machen. Da ist zum Beispiel Riazuddin Kawsar vom Unternehmen Spacenus. Er mixt Informationen aus den Sentinel-Satelliten zum Zustand der Pflanzen mit zig anderen Informationsquellen über Wetter, Böden, und Pflanzen. So gefüttert sollen zukünftig völlig autonom fahrende Traktoren Felder einer Präzisionslandwirtschaft umpflügen. Oder meine Zugbekanntschaft, die sich als Carmen Tawalika entpuppt. Sie berichtet in ihren drei Minuten darüber, wie man Sentinel-Daten überhaupt findet, wenn man sie braucht. Das Unternehmen Mundialis, für das sie arbeitet, hat eine Art Google für Sentinel-Daten entwickelt, um die Massen an hochaufgelösten Satelliteninformationen zu durchstöbern. Die mitgebrachten Postkarten zur Space-Art sind in der Community schnell vergriffen.
Auf den Bühnen geht es um ernsthafte Dinge wie Katastrophenmanagement, Ernteprognosen, Überwachung von Ölteppichen, Beobachtung der Gletscherschmelze und Prognosen der Malariaausbreitung, doch im Publikum haben die Energy-Drinks Hirne, Tastaturen und Stimmung zum Kochen gebracht. Keine Zeit für Welt retten, lasst uns Social Media machen.
Ich heb‘ ab
Um mich herum ist es laut. Von den Inhalten bekomme ich kaum noch etwas mit. Es sind mehr die Eindrücke, das Durcheinander des Stimmengewirrs, der Zeichner, der die Ereignisse in einem großen Streich minutiös auf ein riesiges Whiteboard bringt, die Liveschalten nach Courou, und die entspannt wirkenden, ruhig konzentrierten Gesichter in den Kontrollzentren, die sich ins Bewusstsein schleusen.
So etwas hat es in Darmstadt noch nicht gegeben. Die ganze Inszenierung soll sagen: Hier tut sich gerade etwas Großes. Da werden ESA Operations Director Rolf Densing, Philippe Goudy, Chef der Erdbeobachtungsprojekte bei der ESA und die Sentinel-2-Misssion-Managerin Bianca Hörsch gefeiert wie Popstars und Ex-Astronaut Thomas Reiter schreibt Autogramme und wird zum Selfie-Star mit Youtube-Space-Nerds. Auf der einen Seite hocken, tippen, filmen in T-Shirts bekleidete Youngsters, auf der anderen Seite staunt das Astro-Establishment im Anzug. Und das Erstaunliche: Es passt alles scheinbar perfekt zueinander. Die konzentrierte Andacht, wie sie sonst bei den üblichen Launchsessions zelebriert wird, ist purer Euphorie gewichen. Hier geht’s um Europe united statt um Deutschland, Italien oder wer auch immer first. Die gemeinsame Mission im All eint, was sich auf anderen Ebenen der Europäischen Union gerade zu zerlegen scheint. Dringt auch nur ein Hauch der erhabenen Gemeinschaftsleistung, wie sie in der Copernicus-Mission entstanden ist, ins Bewusstsein der Nationen – der Europäischen Union wäre geholfen.
Als die Countdownanzeige vier Minuten vor Start der Vega-Trägerrakete auf den Monitoren erscheint, sinkt der Geräuschpegel langsam. Die letzten Sekunden gehören unter andächtigem Handyhochhalten dem Countdown aus Corou. „Attention pour le grand finale. Dix – neuf – huit – troi – deux – unité – top – Décollage – Take-off! Irgendwie habe ich das Gefühl, ich fliege mit.
Ihr wollt noch mehr Infos:
Video zum Liftoff
Quelle: ESA
Das komplette Live-Event im Video. Über zwei Stunden Launchparty des Sentinel-2B.
Wertvolle Infos zu Sentinel 2B und Copernicus
Quelle: ESA
Toller Artikel, der die Stimmung sehr gut einfängt! Und die Passage über die Zusammenarbeit, ohne die das ganze Weltraumprogramm nicht möglich wäre und von der EU initiiert und gefördert wurde, hat mir besonders gut gefallen.