Vor zwei Wochen fiel mir ein Taschenbuch aus dem Regal direkt vor die Füße: „Ein gutes Leben leben“. Bis zu diesem Moment hatte es jahrelang unberührt vor sich hin gestaubt. Und unbeachtet in die Luft geschaut. Sich vielleicht danach gesehnt, einem Leser seine Gedanken zu schenken. Zeit, sich zu bücken und erstaunliche Entdeckungen zu machen. Denn Helen und Scott Nearing beschreiben darin, wie sie ihren Lebensmittelpunkt im Jahr 1932 von New York auf eine Farm in Vermont verlegen, um dort ihr gutes Leben zu suchen.

Da ziehen also ein Intellektueller und Wissenschaftler gemeinsam mit einer Musikerin auf’s Land –  im Jahr 1932, mitten in der Weltwirtschaftskrise. Millionen Menschen sind arbeitslos, viele hungern. In den Städten herrscht bittere Armut, auf dem Land bietet das Leben nicht viel mehr als  harte Arbeit und ein bescheidenes Auskommen. Fließendes Wasser, Kanalisation, Elektrizität, motorbetriebene Maschinen – das alles ist noch die Ausnahme in der Provinz. Und genau dahin zieht es den Wirtschaftsprofessor Scott Nearing, der durch seine laute Stimme für die Arbeiter und seine vehemente Kritik an Kinderarbeit plötzlich ohne Auditorium dasteht. Rausgeschmissen, weil er für die Zeit und Gesellschaft zu kritisch, zu aufrührerisch ist. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Helen, Musikerin und genau wie Scott von der Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben beseelt, packen die Beiden ihr Hab und Gut zusammen und ziehen von New York auf’s Land. Im Buch klingt es einerseits ein bisschen nach trotzigem „Wenn ihr uns hier nicht haben wollt, dann suchen wir uns etwas anderes“, aber definitiv auch nach Aufbruch. Hätten die Eliten der Zeit Scott nicht vor die Tür gesetzt, ihm den Mund verboten und mit einem Bann belegt, er hätte diesen Weg im Alter von fast 50 Jahren vielleicht nicht eingeschlagen.

Die Ein-Drittel-Regel

Da ziehen also zwei Menschen aufs Land, die vom Landleben und von Landwirtschaft keinerlei Ahnung haben. Und nur eine grobe Idee im Gepäck, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen. Sie kaufen eine runtergekommene Farm und hoffen, mit dem Holz auf ihrem Land soviel Geld zu verdienen, wie sie zum Überleben brauchen. Die Beweggründe ihres radikalen Neuanfangs können sie hingegen genauso klar benennen, wie ihre Vorstellung von ihrem Entwurf eines guten Lebens: Der Ist-Zustand: Die Mieten und die Lebenshaltungskosten sind hoch in New York, auch damals schon, den Großteil der Lebenszeit verbringen die meisten Menschen damit, sich das Leben in der Stadt leisten zu können. Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Der Soll-Zustand: Die Beiden planen, ein Drittel ihrer Zeit dem Broterwerb zu widmen, ein Drittel Zeit ihren Neigungen wie Schreiben, Lesen, Malen und Musik und ein Drittel soziale Tätigkeiten.

Der Zeit voraus

Dabei haben Helen und Scott klare Prinzipien, was sie tun und was sie lassen wollen. Beispielsweise lehnen die beiden strikt ab, Tiere in ihren Haushalt zu integrieren. Weder als Haus-, noch als Nutztiere. Weder zur Milchwirtschaft noch als Basis für Fleisch, wie es damals in Vermont und in weiten Teilen des ländlichen Raums üblich war – und heute noch ist. Die beiden sind Veganer, als das Wort dafür noch nicht einmal in der Welt war. Sie wollen als Selbstversorger leben, einen Garten biologisch bewirtschaften, sie achten auf ihre Gesundheit – und waren in den 20 Jahren in Vermont tatsächlich nicht einmal krank – sie leben einen streng eingeteilten Tagesplan – vier Stunden konzentrierte Arbeit und vier Stunden Muße. Statt Vorlesungen zu halten, beginnen die Menschen nach Vermont zu pilgern und sich anzuschauen, was die beiden aufbauen und wie sie ihr Leben auf dem Lande gestalten.

Aktuell wie nie

Tatsächlich fasziniert auch ihr Buch auch heute noch, 85 Jahre nachdem sie beschrieben haben. Das liegt vor allem daran, dass die Themen heute genau so aktuell sind wie damals. Ja, man denkt beim Lesen so manches Mal, wie kann es sein, dass die Welt auch ohne Internet und Digitalisierung, ohne Agenda 2010 und Harz 4, ohne Trump und all die anderen Despoten, ohne Klimawandel und Umweltverschmutzung schon so kompliziert und stressig war, dass man ihr den Rücken kehren wollte. Denken wir, Stress, soziale Ungleichgewichte, Krieg und gesellschaftliche Konflikte, die Sehnsucht nach einem einfachen Leben auf dem Lande, nach einer Abkehr von der Außenwelt wären Themen unserer Zeit – Helen und Scott belehren uns eines Besseren. Es war alles da, genauso wie heute. Vielleicht sogar schlimmer. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Schieflage, das zumindest für Aufmerksame sichtbare Herannahen des zweiten Weltkrieges – da sind zwei, die sehen und erkennen das alles und ziehen ihre für sie logischen Konsequenzen: Raus auf’s Land, mit ihren eigenen Regeln und Plänen, in ihrer eigenen Mini-Gesellschaft auf.

„Ein gutes Leben leben“ trifft auch heute noch. Wirkt die Sprache etwas aus der Zeit gefallen, stehen plötzlich Inhalte vor dem Leser, die man am liebsten abschreiben an die Wand hängen möchte – als Erinnerung, was wichtig ist, als Stütze, wie sich das gute Leben umsetzen lässt, als Mahnung, dass das Leben jetzt lebt. In den Kapiteln über Landwirtschaft und Hausbau gehen die beiden so sehr ins Detail, dass sie fast als Anleitung dienen können. Zwei Passagen sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Einmal beschreiben Scott und Helen, dass zwei menschen gemeinsam viel erreichen können, wenn sie im Großen wie im Detail an einem Strang ziehen.

Eine anderer Abschnitt handelt davon, dass die beiden es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, im Frühjahr besonders schöne Blumen an Nachbarn und Touristen (die gab’s schon, hießen aber noch nicht so) zu verschenken. Eine ältere Dame, der sie einen Blumenstrauß überreichen besteht darauf, die Blumen zu bezahlen. Die beiden lehnen ab. Darauf die Frau:“ Ich lebe wohl schon zu lange in der Nähe von New York, um das zu verstehen.“

Ich denke, Helen und Scott Nearing, wären auch heute in einer modernen, globalisierten und vernetzten Welt noch Exoten. Sie lebten von selbst angebauten Gemüse, Kräutern, Salat, weigerten sich verarbeitetes Getreide zu sich zu nehmen, sondern weichten es stattdessen ein und aßen es unbearbeitet. Kein Brot, keine Brötchen, noch nicht mal Pfannkuchen, wie sie in den USA auch damals schon zum Frühstück die Regel waren. Sie zelebrierten Trennkost. Sie predigten und lebten Verzicht und Zufriedenheit. Sie waren pedantische Planer, entwarfen einen Zehn-Jahres-Plan, an den sie sich strikt hielten und den sie Stück für Stück abarbeiteten. Sie waren planvoll, wirken aber nicht nicht besessen. Sie wollten leben, aber nicht missionieren. Sie hatten ein Ziel, und verfolgen es mit absoluter Konsequenz. In den zwanzig Jahren in Vermont bauten sie Häuser mit ihren eigenen Händen und einfachstem Werkzeug, machten ein Stück Land urbar, dass nicht mehr für die Landwirtschaft taugte, sie schafften und ruhten, und lebten. Und verließen Vermont nach zwanzig Jahren, weil die Nähe zu New York viele Gäste anzog.

Entschlossen bis zuletzt

In der Gesellschaft ihrer Nachbarn blieben sie bis zuletzt Fremdkörper, wenn man die Zeilen ihres Buches so verstehen darf. Zu fremd die Lebensentwürfe der Neuankömmlinge. Die nächsten mehr als 25 Jahre bauten die Nearings in Maine erneut eine Farm auf. In Harborside, Main, existiert ihre Forest Farm noch heute in Form eines Zentrums für gutes Leben. Die Beiden starben übrigens im Alter von 99 und 95 Jahren. Scott beschloss kurz vor dem 100sten Geburtstag, es sei an der Zeit zu gehen, Helen hatte einen Autounfall am Steuer ihres Pickups.

Mehr über das gute Leben und Scott Nearing

Ein gute Leben leben

https://www.amazon.de/gutes-Leben-leben-Helen-Nearing/dp/3923176007

Die zweite Farm der Nearings ist heute ein „Zentrum für gutes Leben“

http://goodlife.org/

Scott Nearing bei Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/Scott_Nearing

Originalsequenz von Scott Nearing

https://www.youtube.com/watch?v=evBpwQPn8QI

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert