Gastbeitrag von Aline Scholz
Achtung: Der Dokumentarfilm „Alphabet – Angst oder Liebe“ von Erwin Wagenhofer ist nichts für Zartbesaitete. Es ist der letzte Teil einer globalisierungskritischen Trilogie, der aber wie schon seine beiden Vorgänger „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ völlig eigenständig funktioniert. Dieses Mal wirft der österreichische Filmemacher einen aufrüttelnden Blick auf unser Bildungssystem.
Wagenhofer nimmt uns dabei mit auf eine Reise nach Asien, in die USA und durch Europa und führt uns dabei durch ein Wechselbad unserer eigenen Gefühle. Durch dramatische Gegenüberstellungen von Tätern, Opfern und Hoffnungsträgern des Bildungssystems schubst er uns von einem emotionalen Extrem ins andere. Wir erleben einen Fünftklässler, der in der chinesischen Millionenstadt Beijing einen Lernmarathon absolviert. Im Bus fallen dem Gewinner der Mathe-Olympiade die Augen zu. Seine Mutter geht zu Hause kritisch die Auszeichnungen des Jungen durch. Er weiß, es wird auch in Zukunft keine Pausen geben. Denn „Gewinne noch ein paar mehr!“ lautet die Aufforderung der Mutter. Nach der staatlich angeordneten Gleichheit gelten heute Konkurrenz und Leistung als neue Parolen von Regierung und Eltern in China. Chinas Schüler haben die längsten Lernzeiten, das geringste Glücksgefühl und beneiden ihre Eltern um das Ausschlafen am Wochenende.
Dem schnauzbärtigen „Mr. Pisa“ alias Andreas Schleicher macht der chinesische Drill Hoffnung. „Die Welt, die sich jeden Tag verändert…“, hingegen macht ihm Angst. Andere wiederum haben berechtigte Sorgen, dass dieser OECD-Abteilungsleiter so viel Einfluss auf ihr Leben hat. „Mein Kopf ist voll. Ich habe kein Leben mehr“, liest die Hamburger Schülerin Yakamoz Karakurt aus ihrem offenen Brief an die Schulbehörde vor, der 2011 für viel Aufsehen aber keine Veränderung gesorgt hat. Ankläger wie Ex-Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger wundern sich laut, warum sich so viele Menschen wie die Lemminge freiwillig in das Bildungsgefängnis begeben, um auf ewig im Hamsterrad von Leistung und Wachstum zu funktionieren. Dort sind die akkurat gekleideten Topmanager von Mc Kinsey während ihrer Suche nach den dem „CEO of the Future“ längst angelangt, propagieren aber trotzdem weiter: Leistungsorientierung zählt, alles andere sei egal.
„Warum eigentlich?“, fragen wir uns, während wir mit Hirnforscher Prof. Gerald Hüter und Hund durch die deutsche Fachwerkidylle spazieren und erfahren, dass Konkurrenz gegen die Natur des Menschen sei und Schule, wie wir sie kennen, ein Relikt aus vergangenen Zeiten und jegliche Kreativität zerstöre. Die Leidenschaft mit der Wagenhofer mahnt, springt auf uns über. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Zwischendrin lässt er uns allein mit einem Haufen von aufrüttelnden Bildern und aufgerüttelten Gefühlen. Kämen zum Ende des Films nicht auch Mutmacher wie Bildungsexperte Ken Robinson und Malort-Gründer Arno Stern zu Wort, würden wir uns wohl am liebsten mit einem Taschentuch auf dem Kinosessel zusammenrollen. Aber ihre Geschichten inspirieren und machen Mut, sodass nach knapp zwei Stunden Gefühlsachterbahn eine leise Vorfreude aufkommt, auf das, was
möglich zu sein scheint, wenn wir den Mut haben, alles zu ändern.
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